#1: Autonomie im Wandel
Wir leben in unsicheren Zeiten. Vieles, was selbstverständlich schien, war es innert weniger Wochen nicht mehr: Ein Abend mit Freund*innen im Restaurant, das gemeinsame Musikerlebnis beim Live-Konzert. Mit Sehnsucht nach derzeit Vergangenem fragen wir uns: Wie sollen wir uns verhalten, um die Verbreitung des neuartigen Corona-Virus einzudämmen?
Auf der Suche nach Antworten fühlen sich viele an den aufklärerischen Philosophen Immanuel Kant erinnert. Er schrieb im Jahr 1785: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.» [1] Diese Regel leitet Kant in seinem Buch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten her, das 1785 veröffentlicht wurde (siehe Seite 51). Verweise auf seine «goldene Regel» liessen sich jüngst in der medialen Berichterstattung finden, beispielsweise im Artikel Ansteckende Zeiten, der im Juli in der Republik erschien. Vereinfacht heisst das so viel wie: Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch nicht anderen zu. Würden wir diese «goldene Regel» nicht befolgen, beispielsweise lügen, obwohl wir nicht wollen, dass uns jemand anlügt, wäre das ein Widerspruch – und nach Kant strebt jeder Mensch als ein vernünftiges Wesen danach, widerspruchsfrei zu denken und zu handeln. [2] In Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwirft Kant eine Moralphilosophie, die den Menschen als Vernunftwesen a priori voraussetzt. Dabei verlangt nicht nur die praktische, sondern auch die theoretische Vernunft nach Widerspruchsfreiheit. Dazu äussert er sich in seinen berühmten drei Kritiken: Kritik der reinen Vernunft (1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik der Urteilskraft (1790). Des Weiteren hat nach Kant weder die kulturelle Prägung noch die biologische Ausstattung einen Einfluss auf die jedem Menschen gegebene, reine Vernunft. Der Mensch hat aber die Möglichkeit, seine Vernunft zugunsten sinnlicher Bedürfnisse zu verleugnen.
Obwohl diese Regel – Kant nennt sie den kategorischen Imperativ –, zunächst eine simple Handlungsanweisung zu sein scheint, belegen die gegenwärtigen Ereignisse das Gegenteil: Denn träfe sie zu und würde sie einfach befolgt, hätten wir beispielsweise in den öffentlichen Verkehrsmittel bereits eine Maske getragen, bevor der Bundesrat Anfang Juli dies als obligatorisch verordnete. Wir handeln also nicht immer und selbstverständlich nach diesem Gesetz, das wir uns selbst als Vernunftwesen gegeben haben, sondern nach einem, das uns von aussen durch die Gesetzgeber*innen auferlegt wurde. Woran sind wir gescheitert? Sind wir überhaupt autonom?
Wie wir uns selbst Gesetze geben
Für Kant liegt das Problem darin, dass der menschliche Wille nicht nur von der Vernunft beeinflusst wird – die uns eben sagt, dass wir nicht lügen sollen, weil wir nicht angelogen werden wollen –, sondern auch von unseren Bedürfnissen und Neigungen. Wenn wir uns von letzteren leiten lassen, verlieren wir unsere Autonomie und werden als Vernunftwesen unfrei: Denn wir haben uns gegen die Freiheit entschieden, uns selbst Gesetze zu geben. Erzeugen wir hingegen mit unserer Vernunftnatur selbst Gesetze und befolgen diese auch in unseren Handlungen, macht uns dies nach Kant autonom. Damit verschob er den Begriff der Autonomie, der sich aus dem Griechischen «autos» (sich selbst) und «nomos» (Gesetz) zusammensetzt, vom Politischen ins Moralische. Der kategorische Imperativ ist also keine Regel, die uns von einer politischen Instanz auferlegt wird, sondern eine, die wir selbst erschaffen, uns als vernünftige Wesen geben und unserer sinnlichen Natur auferlegen. [3] «Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, dass die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen sein.» In: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Seiten 74–75.
Ein Anzeichen für diese selbstauferlegten Gesetze ist laut Kant das schlechte Gewissen. Tragen wir beispielsweise keine Maske und fühlen uns dabei schuldig, weil wir wissen, dass Masken am meisten Sinn ergeben, wenn alle sie tragen, dann wissen wir auch, dass wir gegen unsere Vernunft gehandelt haben. Sie ist es, die es uns ermöglicht, autonom und frei zu sein, und damit moralische Entscheidungen zu treffen. Durch die «goldene Regel» können wir also nicht nur darüber nachdenken, wie die Welt ist, sondern auch, wie sie sein sollte. [4] «In einer praktischen Philosophie, wo es uns nicht darum zu tun ist, Gründe anzunehmen, von dem, was geschieht, sondern Gesetze von dem, was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht, d. i. objektiv-praktische Gesetze: da haben wir nicht nötig, über die Gründe Untersuchung anzustellen, warum etwas gefällt oder missfällt , wie das Vergnügen der blossen Empfindung vom Geschmacke, und ob dieser von einem allgemeinen Wohlgefallen der Vernunft unterschieden sei; worauf Gefühl der Lust und Unlust beruhe, und wie hieraus Begierden und Neigungen, aus diesen aber, durch Mitwirkung der Vernunft, Maximen entspringen; […]» In: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Seite 58.
Die Vernunft bleibt bei Kant den Menschen vorbehalten, die entsprechend unabhängig von anderen Wesen sind, zu denen auch Tiere und Pflanzen gehören. Kant träumte vom Fortschritt der Kultur, von einer Welt, die immer moralischer wird. [5] «Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muss, seine (vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen, und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; […]» In: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Seiten 57–58. Darin würden die politischen Verhältnisse so eingerichtet, dass es den Menschen immer leichter fällt, den kategorischen Imperativ einzuhalten und demnach moralisch zu handeln. Viele Hoffnungen sind mit der Idee der fortschreitenden Kultur verbunden – zu der auch die Wissenschaft gehört –, in denen der Mensch oft bis heute im Zentrum steht. Genau dieses Bild wird in der gegenwärtigen Krise infrage gestellt. Denn die Pandemie hat gezeigt, dass Menschen weder im Sinne Kants immer vernünftig handeln, noch dass sie durch ihre Vernunft die äussere Natur beherrschen können.
Beherrschen und beherrscht werden
Der französische Philosoph und Anthropologe Bruno Latour setzt sich seit den 1970er-Jahren für ein weniger anthropozentrisches Menschenbild ein. Dass sich die kantische Unterscheidung zwischen den vernünftigen Wesen auf der einen Seite und der unvernünftigen Natur auf der anderen als fatal erweist, zeigt für Latour die aktuelle Klimakrise. Dabei betont er, dass nicht nur die Natur auf die Menschen einwirkt, sondern auch die Menschen auf die Natur, was er in seiner «Akteur-Netzwerk-Theorie» illustriert. Darin besteht ein Netzwerk aus verschiedenen Akteur*innen, die in wechselseitigen Beziehungen zueinander stehen. Diese können nicht nur Menschen, sondern auch Tiere oder gar Vorstellungen sein, so etwa jene eines «gemeinsamen Schicksals», das gerade durch die Pandemie zum Vorschein kommt. [6] «Ich verwende ‹Akteur›, ‹Agent› oder ‹Aktant›, ohne irgendwelche Annahmen darüber zu machen, wer sie sein könnten und mit welchen Eigenschaften sie begabt sind. Sehr viel allgemeiner als ‹Charakter› oder ‹dramatis persona›, haben sie das Hauptmerkmal, autonome Figuren zu sein. Abgesehen davon können sie alles sein – Individuum (‹Peter›) oder Kollektiv (‹die Masse›), figurativ (anthropomorph oder zooamorph) oder non-figurativ (‹Schicksal›).» In: The Pasteurization of France, Seite 252. The Pasteurization of France wurde 1988 verfasst und ist eine Grundlageliteratur zur sogenannten «Akteur-Netzwerk-Theorie».
Anders als bei Kant, können all diese Akteur*innen auf ihre Weise autonom sein. Dabei sind Tiere, Dinge oder Institutionen nicht einfach passive Objekte, die der menschlichen Kontrolle unterliegen, sondern wirken aktiv auf soziale Handlungen ein. Bleiben wir beim Beispiel der Schutzmaske: Diese hält das Corona-Virus zurück und beeinflusst gleichzeitig unser Verhalten. Wenn wir sie tragen, fassen wir uns weniger ins Gesicht oder treten – durch ein Gefühl von Sicherheit, das uns die Maske vermittelt – näher an andere Menschen heran. Ihr eingeschrieben ist also ein bestimmtes Handlungsskript, das auf uns zurückwirkt und das uns nur teilweise bewusst wird. Sie ist also nicht nur ein «totes Objekt» – in den Worten von Kant eine «vernunftlose Sache» –, sondern eine Akteurin unter vielen. [7] Das bekannteste Beispiel ist der «Berliner Schlüssel», der durch seine spezifische Konstruktionsweise auch das soziale Handeln determiniert. Denn der Schüssel kann erst aus dem Schloss gezogen werden, wenn die Tür vorgängig abgeschlossen wurde. Mensch und Schlüssel sind also beide massgebend für den Handlungsablauf. Dieses Beispiel veröffentlichte Latour in seinem Essay Der Berliner Schlüssel, das 1994 erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht wurde. Diese gegenseitigen Abhängigkeiten sind ein grundlegender Bestandteil der philosophischen Position Latours. Denn nach ihm kann nichts aus sich selbst heraus begriffen werden, – auch nicht der Mensch. Erst, wenn wir uns in diesem Sinne als Akteur*innen unter vielen anderen begreifen, können wir eine autonome Rolle in einem Netzwerk einnehmen.
Um ein umfassenderes Bild der Welt zu erhalten, sollten wir nach Latour die Akteur*innen nicht isoliert betrachten, sondern die Prozesse zwischen ihnen in den Vordergrund stellen. Um diese Prozesse zu untersuchen, entwickelte er in seinem späteren Werk sogenannte «Existenzweisen», auch Modi genannt. Ein solcher Modus beschreibt jeweils die Art und Weise, wie sich ein Netzwerk bildet. [8] Diese Gedanken entwickelt er in seinem Buch Existenzweisen – Eine Anthropologie der Modernen, das 2014 erstmals auf Deutsch erschien. Darin räumt Latour also ein, dass es nicht einfach beliebige, sondern ganz spezifische Netzwerke gibt. Und in diesen gibt es nun nicht mehr primär die sogenannten Akteur*innen, sondern einen jeweiligen Modus, was gleichbedeutend ist mit einer «Existenzweise». Wie die Akteur*innen hängen auch die Existenzweisen voneinander ab. Und genau diese vielen Abhängigkeiten sind es, die für ihn einen starren Autonomiebegriff problematisch machen. Eine Existenzweise, die für das Entstehen von Autonomie zentral ist, ist der Modus der Politik. In ihm finden tägliche Austauschprozesse statt, die näher beleuchtet werden müssen, um verstehen zu können, wie Autonomie – Latour spricht auch von politischer Freiheit – entstehen kann. Die für die Politik spezifischen Prozesse bilden jeweils ein Kollektiv – ein «Wir» –, das zugunsten eines neuen «Wir» immer wieder ersetzt wird. [9] Latour vergleicht die Existenzweise der Politik mit einer kreisförmigen Bewegung, die er wie folgt beschreibt: «Ohne den Kreis gäbe es überhaupt keinen Zusammenschluss, keine Gruppe, keine Möglichkeit, ‹wir› zu sagen, ganz einfach keine Sammlung und daher auch kein Kollektiv.» In: Existenzweisen – Eine Anthropologie der Modernen, Seite 479. Dieses «Wir», in dem auch nicht-menschliche Akteur*innen inbegriffen sind, steht dabei auch in einer konstanten Verhandlung mit dem «Ich». Gerade in Zeiten wie den heutigen, in denen innerhalb weniger Wochen viele Massnahmen und Empfehlungen unseren Alltag verändern, wird unsere Rolle gegenüber dem Kollektiv besonders sichtbar: Das «Ich» braucht das «Wir» und das «Wir» braucht das «Ich». Da sie Unterschiedliches fordern, machen sie sich zwar gegenseitig instabil, aber gerade dadurch auch autonom, weil sie das jeweils «Andere» in diesem Prozess mittragen.
Damit wir aus Latours Perspektive also autonom werden können, gilt es in erster Linie die Transformationen des Politischen zu berücksichtigen, wie etwa Vermittlungen, Affären und Kontroversen. Somit bindet Latour die Autonomie nicht an die Idee der Vernunft. Im Gegenteil: Er wirft Denker*innen wie Kant sogar vor, das Politische mit der Vernunft ersetzt und damit einen wichtigen Wert für das gemeinsame Leben verdrängt zu haben. Denn nach Latour wird das gemeinsame Leben nicht im unbestreitbaren Reich der Vernunft festgelegt, sondern tagtäglich im Politischen ausgehandelt. [10] «Neben der Vielzahl der Philosophen, die seit Platon versucht haben, die Politik durch die Vernunft zu ersetzen – indem sie das Bild der Erkenntnis entstellten, dass sie doch wieder aufrichten wollten! – […].» In: Existenzweisen – Eine Anthropologie der Modernen, Seite 474.
Sehnsucht nach der sicheren Zahl
Zurzeit erleben wir, wie Politik und Wissenschaft im Zuge der Pandemie zusammenkommen: Wir können die Debatten täglich mitverfolgen, in denen wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Entscheidungsfindung aufeinandertreffen. In den letzten Wochen stellte sich immer wieder die Frage, wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse auf unseren Alltag auswirken – auf das «Ich», aber auch auf das «Wir». Gesetze, Impfungen, Immunität und Verhaltensempfehlungen bilden ein Gemenge von Hoffnungen und Befürchtungen. In Folge dieser ausserordentlichen Lage wünschen wir uns klare Antworten – vor allem schnelle Erkenntnisse und sichere Befunde aus der Wissenschaft –, an denen wir uns orientieren können.
Die Mathematikerin Tanja Stadler beobachtet in diesem Zusammenhang einen verstärkten Wunsch nach absoluten Zahlen. Gemeinsam mit ihrem Team berechnet sie an der ETH Zürich den Reproduktionswert für die Schweiz, ein Richtwert darüber, wie schnell sich das Virus verbreitet. [11] Der Reproduktionswert – auch R-Wert genannt –, gibt an, wie viele Personen eine infizierte Person im Schnitt ansteckt. Wenn der R-Wert beispielsweise bei 1 liegt, steckt jede infizierte Person eine weitere Person an. Somit gibt der R-Wert einerseits Auskunft darüber, wie schnell sich das Virus verbreitet, andererseits darüber, welche Rolle die Massnahmen des Bundes dabei spielen. Die Berechnung basiert auf den täglichen Infektionszahlen, die der ETH Zürich vom Bundesamt für Gesundheit gemeldet werden. «Bei einer Pandemie ist der Wunsch nach Sicherheit verständlich», sagt Stadler. «Doch Wissenschaft ist nicht starr: Annahmen werden getroffen und fortlaufend verfeinert.» Dies sei in der momentanen Situation besonders spürbar: Die Wissenschaft ist schnelllebiger, nicht zuletzt durch das öffentliche Interesse bedingt, neue Erkenntnisse über das Virus zu erhalten. «Wir versuchen die Unsicherheiten offen zu kommunizieren und zu vermitteln», fährt Stadler fort. «Doch das ist in Anbetracht der aktuellen Situation nicht immer einfach.»
In unsicheren Zeiten neigen wir also dazu, uns nach sicheren Zahlen zu sehnen – und dazu, diese möglichst schnell zu erhalten. Und genau an dieser Stelle verbirgt sich nach Latour eine Gefahr: Blendet man die Prozesse aus, die wissenschaftliche Erkenntnisse durchlaufen, werden sie von ihrem Netzwerk losgelöst. So entsteht der verführerische Moment des «Doppelklicks». Ähnlich, wie man einen Ordner auf dem Desktop mit einem schnellen Doppelklick öffnet, mit dem Anspruch, ebenso schnell an die darin enthaltenen Informationen zu gelangen, so funktioniert auch der Doppelklick von Latour. [12] «Ausgehend von einer vollkommen exakten Erfahrung – die Referenz erlaubt den Zugang –, wird uns dieser Böse Geist ins Ohr flüstern, es sei besser, über einen kostenlosen, unbestreitbaren und unmittelbaren Zugang zur Information – rein und ohne Transformation – zu verfügen.» In: Existenzweisen – Eine Anthropologie der Modernen, Seite 151.
Je schnelllebiger das Weltgeschehen, umso ausgeprägter ist das Bedürfnis, rasch an Wissen zu gelangen. Der Doppelklick – eine weitere der insgesamt fünfzehn Existenzweisen – verführt uns dazu, Schlagzeilen nicht auf ihre Quellen zu prüfen und die wechselhaften Prozesse auszublenden, die wissenschaftliche Erkenntnisse in ihrer Entstehung notwendig durchlaufen. Verschwörungstheorien, in denen behauptet wird, die Wissenschaft wisse letztlich auch nicht Bescheid, weil sie dauernd etwas anderes sage oder falsche Schlüsse, man würde daher systematisch an der Nase herumgeführt, können die verheerenden Folgen dieser Vereinfachung sein. Für Latour wiegen wir uns jedoch auch in einem trügerischen Gefühl der Autonomie, wenn wir von einer a priori gegebenen Vernunft ausgehen, die uns – was auch immer in der Welt passiert – sagt, was wir tun sollen.
Im Netz der Referenzen
Die Prozesse, die beim Doppelklick ausgeblendet werden, sind für Latour ein wesentlicher Aspekt der Wissenschaft. Diese erforschte er unter anderem in seinen langjährigen Feldstudien in Laboratorien. [13] Das Buch Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, das Latour 1979 gemeinsam mit Steve Woolgar veröffentlichte, ist ein Beispiel einer solchen Feldstudie. Um diese Prozesse sichtbar zu machen, entwickelte Latour die Existenzweise der «Referenz»: Auch wenn sich in der Wissenschaft immer wieder Ergebnisse bilden, sind diese nur ein Glied einer langen «Referenzkette». Beispielhaft für eine solche Referenzkette ist die Entstehung des Reproduktionswertes, auch R-Wert genannt. Dieser wird anhand der täglichen Infektionszahlen berechnet. Da Tests aber erst einige Tage nach einer Infektion durchgeführt und im Labor ausgewertet werden, bilden die Zahlen, die das Team von Tanja Stadler vom Bundesamt für Gesundheit erhält, das Infektionsgeschehen ab, das vor circa zehn Tagen bestand. Der so entstehende Wert wird mit Grafiken und Statistiken visualisiert, wobei Diskontinuitäten überbrückt werden müssen. Beim R-Wert bedeutet das: Um eine einfache Zahl, eine spezifische wissenschaftliche Wahrheit zu erhalten, wird der Wert jeweils gemittelt: Da es schwierig ist, die Infektionszahlen auf den Tag genau herunterzubrechen, ist der täglich publizierte R-Wert ein Mittelwert der letzten drei Tage. [14] Die Methode zur Schätzung der effektiven Reproduktionszahl in der Schweiz ist auf der Website der ETH Zürich ersichtlich.
Diese für die Referenz spezifischen Zwischenschritte, wovon nur ein Bruchteil in den Visualisierungen sichtbar wird, gilt es nun nach Latour in Erinnerung zu rufen. Im Falle des R-Wertes wird der Mittelwert zusammen mit einem Unsicherheitsintervall dargestellt. «Der R-Wert ist ein guter Durchschnittswert in der Epidemiologie, um zu verstehen, wie schnell sich das Virus in der Schweiz ausbreitet», sagt Stadler. «Er sollte aber nicht isoliert betrachtet werden, sondern im Zusammenspiel mit anderen Werten, etwa mit den Infektionszahlen, mit dem Prozentsatz der positiven Tests oder mit der Anzahl der Hospitalisierungen.»
Der geschätzte Reproduktionswert ist also nicht eine isolierbare Zahl. Er ist ein Indikator in einem sich stetig verändernden Prozess, der von vielen Variablen abhängig ist, die ihrerseits von anderen Variablen abhängig sind. Zusammen bilden sie den Akteur «R-Wert», der wiederum andere Akteur*innen beeinflusst – auch unseren Alltag und die politische Entscheidungsfindung. Dies zeigt sich an der medialen Berichterstattung der vergangenen Monate, in der die Aussagekraft des R-Wertes heftig diskutiert wurde. [15] Über seine Aussagekraft wurde beispielsweise im Artikel Warum die Interpretation der Reproduktionszahl nicht immer so einfach ist diskutiert, der Anfang Juli in der Neuen Zürcher Zeitung erschien. Im Zentrum stand die Erkenntnis, dass der R-Wert bereits einige Tage vor dem Lockdown abnahm. «Dies wurde so interpretiert, dass der Lockdown gar nicht nötig war, was ich nicht bestätigen würde», sagt Stadler. «Der R-Wert lag erst während des Lockdowns unter 1.» Die frühe Abnahme könne mehrere Gründe haben, beispielsweise, dass die Bevölkerung schon vor dem Lockdown für das Virus sensibilisiert war und sich womöglich vorsichtiger verhalten hat. Dieses Beispiel verdeutlicht, welche Auswirkungen der soziale Kontext auf eine wissenschaftliche Zahl hat – und umgekehrt. [16] Dieser Mechanismus wird oft durch das sogenannte «Prevention Paradox» illustriert: Aufgrund wissenschaftlicher Vorhersagen werden Massnahmen getroffen, die nachträglich von der Bevölkerung angezweifelt werden, da die vorhergesagte Ausbreitung des Virus nicht eintraf. Dabei verhinderten womöglich erst diese Massnahmen die Ausbreitung.
Derzeit verspüren wir einen grossen Wissensdrang: Denn die Art und Weise, wie das Corona-Virus die Welt verändert, ist innert kurzer Zeit ein zentraler Fokus unseres Lebens geworden. Dadurch erhält die Wissenschaft eine neue Bedeutung in unserem Alltag, was sie im Sinne von Latour autonomer macht. Denn als Öffentlichkeit erleben wir gerade den prozesshaften Charakter ihrer Referenzketten. Wissenschaft liefert uns in dieser Hinsicht also keine unwandelbaren Erkenntnisse – was aber nicht bedeutet, dass sie Beliebiges behauptet. Gegenwärtig erweisen sich Erkenntnisse aus der Wissenschaft vielmehr als sicherste Orientierung über den Verlauf der Pandemie. Statt einen Wert als einfache Nummer und feste Orientierung zu abstrahieren, betont Latour den Erkenntnisgewinn, den wir durch die Beschäftigung mit Prozessen, in denen sich Messwerte ständig wandeln, erlangen. Denn erst durch diese Prozesse erkennen wir, wie Strukturen funktionieren, wo Abhängigkeiten bestehen und welche Position wir darin einnehmen können – ja, wie auch wir als Menschen der Wissenschaft autonom entgegentreten können. Latour räumt damit endgültig mit einer Wissenschaftsvorstellung auf, die unsere westliche Kultur über weite Strecken prägte: Es gibt keine «objektive Natur», in die man durch die «Entdeckung» von «Naturgesetzen» Einsicht erhält, welche die Menschen «von aussen» betrachten. Vielmehr ist sie ein sich ständig wandelnder Prozess, der aus unzähligen Akteur*innen besteht und in den wir selbst eingebunden sind.
Wege zu einem anderen Selbstbild
Es ist klar, dass wir nicht die ganze Komplexität, wie sie beispielhaft in Wissenschaft und Politik stattfindet, als Einzelperson verstehen können. Dies wird insbesondere in der aktuellen Corona-Krise deutlich: Wissenschaftliche Erkenntnisse könnten in einigen Tagen bereits präzisiert worden sein, politische Massnahmen angepasst, was uns vor Augen führt, wie schnelllebig und vernetzt sich das Weltgeschehen gerade zeigt. Wir können uns aber dafür entscheiden, auf fliessende Prozesse statt starre Resultate zu fokussieren. Indem wir mehr Kontext zulassen und gegenseitige Abhängigkeiten anerkennen, können wir die Welt auf eine inklusivere Art und Weise verstehen. Doch um zu verstehen, müssen wir Fragen stellen. Hier treffen sich auch Kant und Latour: Es braucht kritisches Denken. «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!», forderte Kant 1783 als Wahlspruch für die Aufklärung. [17] Dieses Zitat folgt auf seine bekannten Worte zur Aufklärung: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.» In: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Seite 53. Was uns Latour in diesem Sinne auf den Weg gibt: Habe Mut, der Welt ein bisschen mehr Komplexität abzugewinnen.
Komplexität und ein über 200-jähriger kategorischer Imperativ: Zwei Weltbilder, die gerade im Jahr 2020 aufeinanderprallen. Kant gibt uns seine «goldene Regel» an die Hand, um uns selbst als autonome Wesen den Weg in eine bessere Welt zu ebnen. Denn mit seinem berühmten Imperativ können wir die Vorstellung der Welt, die wir haben wollen, in unsere Entscheidungen miteinfliessen lassen. Gleichzeitig zeichnet er das Bild einer Autonomie, die – egal, was auch geschieht – immer dieselbe bleibt. Was Autonomie heisst, wandelt sich aber nicht nur durch veränderte Gesetze («nomoi»), sondern ebenso durch ein verändertes Bild des Selbst («autos»). In der Krise spüren wir, dass wir durch das «Andere» – die Natur, ein Virus, das Klima – verwundbar sind. Wir stellen damit unser anthropozentrisches Weltbild infrage. Hier setzt die Autonomie von Latour an: Sie beginnt dort, wo wir das «Andere» in unsere Überlegungen über die Welt miteinbeziehen – nicht nur das «Ich», sondern auch das «Wir». Gehen wir von einem inklusiveren Selbst aus, stellt sich die Frage nach der Autonomie immer wieder neu. Erlauben wir den Prozessen – dem Dazwischen – Einzug in unser Weltverständnis, entsteht ein autonomes Selbst, das stets im Wandel ist.
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Literatur
- Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Werkausgabe Band XI, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (erste Auflage 1977)
- Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werkausgabe Band VII, Kritik der praktischen Vernunft, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (erste Auflage 1974)
- Bruno Latour: Existenzweisen – Eine Anthropologie der Modernen, Berlin: Suhrkamp Verlag, Wissenschaftliche Sonderausgabe (erste Auflage 2018)
- Bruno Latour, Steve Woolgar: Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills: Sage Publications Inc. (1979)